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Erwartungshaltungen: Sozialstudie in der Ruhe vor dem Sturm

In den letzten Tagen war die Anspannung überall zu spüren: Noch gibt es auf der Krankenhausstation unseres Autoren keine Patienten mit COVID-19 zu behandeln, aber das ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Möglichkeiten, mit dieser Anspannung umzugehen, sind ganz vielfältig. Ein nicht immer ganz ernst gemeinter, aber doch ziemlich wirklichkeitsnaher Versuch, das Verhalten von Gesundheitsarbeiter*innen in der Erwartung auf das Losbrechen des Sturms zu skizzieren.

  • Die Bastlerin lässt sich durch fehlendes Material nicht erschrecken. Es gibt keinen Schutz gegen ansteckende Spritzer im Gesicht? Kein Problem: Aus Laminierfolie, Schaumstoffband und einem Tacker lassen sich in wenigen Stunden Arbeit durchaus praxistaugliche Visiere basteln. Das bringt Anerkennung von allen Kollegen, wenn man in der Mittagspause endlich wieder auftaucht und immerhin zwei Stück davon produziert hat.
  • Der Schwarzmaler wusste schon Anfang Januar 2020, dass die Katastrophe auf uns zu kommt. Eigentlich war es schon immer absehbar, dass irgendwann die Menschheit von einer Epidemie dahingerafft wird und die moderne Medizin versagt. Es gibt viel zuwenig Schutzausrüstung. Und die Kolleg*innen werden wegsterben wie die Fliegen. Nachdem er das losgeworden ist und eine Tasse Kaffee getrunken hat, kann er dann aber auch ganz normal weiterarbeiten, sobald er gebraucht wird. Notfalls sogar ohne Handschuhe und ohne die Hände zu waschen.
  • Die Hobby-Epidemiologin weiß heute schon, wie viele Infizierte es Ende nächster Woche geben wird. Und natürlich hat sie spätestens Mitte Januar gewarnt, dass eine Pandemie droht und effektive Bekämpfungsmaßnahmen nötig sind – ebenso wie die Schaffung von Behandlungskapazitäten, falls das Containment versagt. Sie äußert zähneknirschend Zustimmung zu den Maßnahmen des “Social Distancing” die nun notwendig sind, weil niemand auf sie hören wollte.
  • Der Pragmatiker hätte sich gefreut, wenn die Pandemie gestoppt worden wäre, bevor sie richtig ausbrechen konnte. Da das nicht geklappt hat, muss er nun halt auf seinen Urlaub verzichten. So ist das halt, wenn man einen systemrelevanten Job hat. Momentan gibt es noch genug Schutzausrüstung – das ist gut. Wird sie knapp, dann wird es trotzdem auch irgendwie weitergehen. Die Sterblichkeit für Menschen unter 65 Jahren und ohne schlimmere Vorerkrankungen liegt ja wahrscheinlich auch nur im einstelligen Prozentbereich. Und wenn es mehr Personal braucht? Dann wechselt man sich eben in 12-Stunden-Schichten ab und schläft gleich im Krankenhaus.
  • Die Todesmutige fühlt sich endlich einmal wirklich gebraucht. Sie meldet sich freiwillig für die Isolationsstation, auch wenn es keine Schutzausrüstung mehr geben sollte. Dafür hat sie sich diesen Job doch ausgesucht, endlich kann sie ihrer wahren Bestimmung nachkommen, sich für die Patient*innen aufzuopfern. Wenn sie an COVID-19 oder an Übermüdung sterben sollte, wird man ihren Heldenmut zumindest nie vergessen.

Ok. Ich gebe es ja zu: Ein bisschen von diesen Figuren steckt doch in uns allen, oder?

Posted in #krankenhaus, #poetry, #tagebuch, deutsch.