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Der Tod, die Angst und andere Leichen im Keller – Teil 1

Triggerwarnung/Disclaimer: In diesem Text wird es neben vielem anderem um das Thema Tod und Sterben gehen. Viele Menschen halten dieses Thema lieber von sich fern – das finde ich eher problematisch, siehe unten. Aber gerade in Zeiten von Vereinzelung und Angst ist das vielleicht für einzelne Menschen auch gerade zu viel. Ich fühle mich angesichts des Themas deswegen verpflichtet, meinem Text diesen Disclaimer voranzustellen und auch daran erinnern, dass – Krise hin oder her – Anlaufstellen für Notfälle wie immer bereit sind und ihre wichtige Tätigkeit machen. Dazu gehören z.B.:

  • Sorgentelefone wie die Telefonseelsorge: 0800-1110111 / 0800-1110222 (z.T. gibt es auch lokale Sorgentelefone, Suchmaschinen helfen)
  • Die Ambulanzen der Sozialpsychiatrischen Dienste vor Ort (auch kurzfristig/unangemeldet; aber meist nicht nachts oder am Wochenende geöffnet)
  • wenn es gar nicht anders geht (insbesondere bevor sich jemand selbst oder anderen Schaden zufügt): die Notaufnahme des nächstgelegenen Krankenhauses, idealerweise eines mit pschychiatrischer Abteilung – im Notfall (aber bitte nur dann) auch über den Rettungsdienst 112


Heute früh hatte ich meinen ersten “Corona-Toten”.

Drei Nächte zuvor musste ich bereits seine Kinder informieren, dass es ihrem Vater zunehmend schlechter gehe. Der an fortgeschrittener Demenz erkrankte Mann war mit Lungenentzündung ins Krankenhaus eingewiesen und wie derzeit alle Patienten mit Atemwegserkrankungen bzw. Fieber auf die Isolierstation aufgenommen worden. Dort wurde er positiv auf SARS-CoV-2, den Erreger von COVID-19 getestet. Bei einer fortgeschrittenen Demenz werden Infekte immer häufiger, und das Immunsystem kann banale Infekte wie eine Erkältung oder eine leichte Blasenentzündung nicht mehr so gut bekämpfen, so dass sie sich leichter zu Lungen- oder Nierenbeckenentzündungen bis hin zur Blutvergiftung ausbreiten. Der Tod von Menschen mit Demenz kommt daher schließlich oft durch eine solche Infektion – in letzter Zeit eben manchmal auch durch COVID-19.

Besuche im Krankenhaus sind momentan per Verordnung untersagt, allerdings ändern sich die Details der Regelungen oft. So konnte ich am Telefon spätabends zunächst nur auf die Stationsärztin im Frühdienst verweisen. Ich konnte die Tochter am Telefon weinen hören – und dann bedankte sie sich sehr freundlich für unsere Bemühungen. Ich hätte gut verstehen können, wenn sie mich wütend angeschrien hätte, was mir einfällt, ihr keinen Besuch beim schwerkranken Vater zu erlauben. In der Patientenakte konnte ich heute nun nachlesen: Die Stationsärztin hatte am Folgetag mit Verweis auf eine Einzelfallregelung für Palliativpatienten dem Sohn einen Besuch ermöglicht, ob die Tochter auch im Krankenhaus war, weiß ich nicht; die Ehefrau des Patienten war wohl bereits in Quarantäne und durfte nicht mitkommen. Wie schon seit längerem habe sich der alte Mann aufgrund seiner Demenz nur noch mit ja und nein äußern können, der Sohn habe ihn als ruhig und freundlich wahrgenommen, offenbar hatten die Medikamente – unter anderem auch Morphin – dafür gesorgt, dass er nicht mit Atemnot zu kämpfen hatte.


Nur etwa ein Viertel aller Menschen stirbt zuhause – das was sich angeblich so viele wünschen.[1] Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass viel zu viele Menschen im Krankenhaus sterben, und das viel zu oft alleine: Obwohl genau das den Meisten die schlimmste Vorstellung ist. Warum passiert es trotzdem? Oft weil die Angehörigen Angst haben und irgendwann am Anfang des Sterbeprozesses den Rettungsdienst anrufen. Manchmal sind es die Pflegekräfte im Altenheim, die die Verantwortung abgeben wollen oder sogar müssen. Rettungsdienst und Notärzt*innen wollen oder dürfen sich oft nicht die Zeit nehmen, einem Menschen das Sterben zuhause zu ermöglichen oder sie wollen sich “absichern”. Ebenso einige Hausärzt*innen. Angst beim Sterben dabei zu sein. Angst, etwas falsch zu machen. Angst, die Verantwortung zu tragen. Angst, das Wahrscheinliche ehrlich auszusprechen. Angst, Angst, Angst.

Der Tod ist scheinbar für viele Menschen mit unglaublich viel Angst besetzt. Dazu gibt es eine Menge humorvolle Sprüche, zum Beispiel: “Wieso haben die Menschen so viel Unsicherheit in Bezug auf den Tod? Er ist doch das einzige im Leben, was zu 100% sicher ist”. Tatsächlich haben wohl nur wenige Menschen eine klare Vorstellung von diesem sehr natürlichen Vorgang des Sterbens. Der Tod ist tabuisiert und aus dem Alltag verdrängt. Und wenn er gelegentlich etwas präsenter wird, zum Beispiel in einer Pandemie, dann bricht die Angst durch und kann alles in der Gesellschaft auf den Kopf stellen. Der sonst so effektiv aus dem Alltag herausgehaltenen Angst vor dem Tod gelingt es, alle vor sich her zu treiben: 95%-ige Zustimmung für Maßnahmen einer Regierung, das hätte man bis vor einigen Wochen in “Nordkorea” verortet.[2]

Was mich daran traurig macht: Offenbar spielen rationale Argumente nur eine geringe Rolle bei dieser überragenden Zustimmung zu zweifellos weitgehend sinnvollen Maßnahmen. Rationale Argumente ḿit breiter wissenschaftlicher Fundierung würden auch – seit mindestens 30 Jahren – für ein rasches Handeln in der Klimakrise unter Inkaufnahme von kurz- und mittelfristigen Einschränkungen sprechen. Nicht rationale Argumente sondern gezielt Angst mit entsprechender Kommunikation durch “Schockwirkung” zu befördern – das wird im internen Strategiepapier des Innenministerium von Ende März 2020 als zentrale Strategie propagiert: “Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden: 1) Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause.”[3]

Vor einigen Wochen war ich optimistischer hinsichtlich der vernünftigen Anpassungsfähigkeit von Gesellschaften in der Krise. Nun zunehmend Angst und nicht vernünftige Vermeidung schwerer Konsequenzen als Leitmotiv des Handlungskonsens’ zu erkennen, ist enttäuschend.


In der Nacht sehen die Pflegekräfte üblicherweise alle ein bis zwei Stunden nach den Patienten. Wenn es jemandem schlecht geht, erhält er*sie etwas mehr Aufmerksamkeit (und die anderen etwas weniger). Bei dem genannten älteren Herrn stellten sie also heute Nacht bei einem dieser Rundgänge fest, dass er nicht mehr atmete und riefen mich dazu. In einem solchen Fall ist es meine Aufgabe, den verstorbenen Menschen zu untersuchen: Einerseits um sicher zu sein, dass er*sie wirklich verstorben ist, andererseits um zu wissen woran (soweit das möglich ist). Außerdem muss ich die Angehörigen informieren. Das ist normalerweise ein kurzer Anruf in dem ich mein Beileid äußere – ich benutze tatsächlich diese Floskel, die so hingeschrieben sehr unbeteiligt klingt. Aber es sind diese Anrufe, die mich oft am meisten berühren – bzw. in Zeiten vor Corona die persönliche Begegnung mit den Angehörigen von Verstorbenen, ein Händedruck am Sterbebett: “Mein Beileid” oder gar noch formeller “Ich möchte Ihnen mein Beileid ausdrücken.” Derzeit sind es nur noch Anrufe, und bei Verstorbenen mit COVID-19 kommt per Dienstanweisung etwas unangenehmes dazu: Ich muss gleich in diesem Gespräch – in die Stille hinein, die nach der Todesnachricht meistens entsteht – die Angehörigen bitten, innerhalb von 30 Minuten einen Bestattungsdienst zu beauftragen, der die Leiche direkt von Station abholen soll. Das fühlt sich meist sehr taktlos an. Heute am frühen Morgen waren die Angehörigen wieder sehr verständnisvoll. Schon zehn Minuten später meldete sich die Bestatterin und fragte nach den Details. Ich musste tatsächlich noch um ein bisschen Zeit bitten. Denn es ist üblich, dass man nach ungefähr zwei Stunden einen sogenannten “zweiten Blick” macht, bei dem man Veränderungen am Körper der*des Verstorbenen feststellt, die als “sichere Todeszeichen” gelten. Damit niemand lebendig begraben wird, so hat man uns das an der Universität erklärt. Erst danach kommt ein ziemlich offizieller Akt für einen einfachen Arzt: Ich fülle eine Urkunde aus, die “Todesbescheinigung”, die später an Behörden (Standesamt, Gesundheitsamt) geschickt wird. Man könnte sagen: Ich erkläre einen Menschen für tot.


Auch im Krankenhaus spielt die Angst eine wichtige Rolle. Es gibt Menschen die als Pflegekräfte arbeiten und die nachts Angst haben in die “Leichenhalle” zu gehen. Wie ich bereits geschrieben habe, gehört der Umgang mit Toten durchaus zu meinem Arbeitsalltag. Wenn ich dann aber wie gerade beschrieben “den Tod festgestellt habe”, ist meine Aufgabe allerdings normalerweise erledigt. Alles was dann kommt, darf ich anderen Gesundheitsarbeiter*innen überlassen.

Schon gestern Abend war ein*e Patient*in verstorben: Nicht an COVID-19 sondern an einer der vielen anderen Ursachen, die bei einem alten Menschen mit ohnehin stark geschwächten Körperfunktionen dazu führen können, dass diese dann nacheinander aussetzen. Auch in diesem Fall wurde ich dazu gerufen und habe “den Tod festgestellt”. Allerdings hörte ich dann mit, wie die Stationsschwester telefonisch versuchte, eine weitere Person zur Unterstützung für den Transport in den Keller zu finden. Mehrere Mitarbeitende verweigerten sich aus Angst – da ansonsten wenig Arbeit auf mich wartete, machte ich mich gemeinsam mit der Stationsschwester auf den Weg. Eine solche Leichenhalle ist eigentlich ein einfacher Kühlraum, wie es ihn auch zum Beispiel in Restaurants für Lebensmittel gibt. Bloß dass die Stahlwannen hier gut zwei Meter lang sind und auf Rollen ins das Regal geschoben werden. Wir hatten tatsächlich schon einige “Leichen im Keller”, vier oder fünf Fächer waren bereits belegt. Eingerollt in ein Bettlaken wurde die soeben Verstorbene dazwischen geschoben. Dann Licht aus und Riegel vor, damit es drinnen kalt bleibt. Schließlich noch eine Eintragung in ein Buch. Das ist eine erstaunlich nüchterne Sache, ein bisschen pietätlos fühlt es sich an mit den Stahlwannen. Aber es ist irgendwie auch nicht so wichtig, was dort unten ist, wo nur gelegentlich Pflegekräfte oder die Bestatter*innen hinkommen. Das was zählt sind die Gesten, die Symbole und die Floskeln, der Händedruck oder wenigstens der Telefonanruf. Nicht die Lagerung der Toten ist relevant, sondern die Begleitung der noch-Lebenden und der weiter-Lebenden.


Teil 2 hoffentlich wenn ich wieder ausgeschlafen bin: zu den gefühlt so verschiedenen Realitäten: Die Realität der Gesundheitsarbeiter*innen, für die Exponentialkurven der Unterschied zwischen utopischen Arbeitsbedingungen und schlaflosen 3-Tages-Schichten bedeuten können. Und die Realität fast aller anderen, denen die Exponentialkurve immer abstrakt und fern bleibt, und die sich ihr trotzdem voller Angst unterwerfen sollen. Die Realität derjenigen, die sarkastisch “jedes Jahr einen Corona-Ausbruch” gebrauchen könnten, weil sie endlich einmal ihre Arbeit in der Notaufnahme bewältigen können, wenn viele Menschen mit harmloseren Befindlichkeitsstörungen aus Angst zuhause bleiben und nur noch die kommen, die wirklich schwer krank sind. Die Realität derjenigen, die vor Isolation den Koller kriegen, für die das allgegenwärtige Wort “Solidarität” von Sinn entleert wird, die im besten Fall sich mit neuer “Kinship” aus der Vereinzelung herauskämpfen (wie freytaggrau an anderer Stelle in diesem Blog – Danke!).

Fußnoten

[1] Hanno Charisius in Süddeutsche Zeitung vom 22. Februar 2015, online unter: https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/sterben-der-beste-tod-1.2360416-0
[2] ARD-Deutschlandtrend vom 23. März 2020, online unter: https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend-extra-blitzumfrage-103.html
[3] “Gruppe von rund zehn Fachleuten” im Auftrag des Bundesinnenministeriums “Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen”, online veröffentlicht durch die Open Knowledge Foundation e.V./FragDenStaat.de unter: https://fragdenstaat.de/blog/2020/04/01/strategiepapier-des-innenministeriums-corona-szenarien/, hier insbesondere S. 13f.

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