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12. März

Auf einmal geht alles ganz schnell. Die Maschinen stehen still. Die Grenzen sind zu. Die Flugzeuge am Boden. Alle bleiben dort, wo sie eben gerade sind. Und verfolgen gebannt das Tempo, mit dem sich alles verändert. Der Horizont politisch-gesellschaftlicher Entscheidungen liegt nicht mehr bei Jahren bis Jahrzehnten – Rente, Kohleausstieg, die nächste Wahl; ja nichts tun, an das sich die Wirtschaft nicht behutsam anpassen kann. Auf einmal werden Entscheidungen getroffen, die unser Leben übermorgen oder in der Woche darauf massiv verändern werden. Ein Hauch von revolutionärer Situation liegt in der Luft.

Eines ist gewiss: Wenn der Coronavirus uns nicht mehr beschäftigt, wird niemand mehr behaupten können, dass schnelle Entscheidungen, Umstellung von Wirtschaft, Tourismus, Alltag, nicht möglich sind.

Leider nicht ganz so, wie wir es uns vielleicht im Geheimen immer mal erträumt haben. Zum Glück auch nicht so schlimm wie wir es gelegentlich befürchtet haben. Weder November 1918 noch Januar 1933. Wem das zu pathetisch klingt, hat wahrscheinlich die Reden von Politiker*innen wie Wissenschaftler*innen der letzten Tage nicht gelesen. Wer die Nachrichtenticker verfolgt könnte meinen, ein Krieg ist ausgebrochen:  “Wir werden das Virus besiegen. Aber in was für einer Gesellschaft wir danach leben werden, und in was für einer Welt, das hängt davon ab, wie wir heute handeln.” (Bundespräsident Steinmeier 16.03.2020).

Nachdenklich stimmt, dass die Geschwindigkeit vor allem von Angstreaktionen getrieben zu sein scheint, weniger von vorausschauendem proaktiven Handeln aus Vernunft und Solidarität. Nachdenklich stimmt auch, dass nach Verboten gerufen wird, selbst aus progressiven, linken Kreisen – und niemand wirklich sicher ist, ob es auch ohne Verbote gehen würde. In einem Moment bin ich niedergeschlagen, weil ich nicht ausschließen kann, dass so viel unvernünftiges Verhalten nur durch Verbote in Schach gehalten werden kann. Im nächsten Moment bin ich euphorisch von der (so scheint es mir) ausgewogen dosierten Mischung aus solidarischem Zusammenhalt und physischem Abstand in Projekten wie “Soli statt Hamstern”.

Viele von uns sind seit Jahren politisch aktiv: Manche eher in der Antirassismusarbeit, der Unterstützung für Geflüchtete, zuletzt viele in Themenbereichen rund um die Klimakatastrophe. Sicher kennen alle von uns das Gefühl, dass wir uns so oft und intensiv engagieren müssen und dann bewegen sich die Dinge nur ein winziges Stück. Alles geht viel zu langsam. Gleichzeitig hören wir oft das Diskussionsmotiv, dass sich andere Menschen – die uns eher fremd sind – von der Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Veränderungen überrollt fühlen. In diesen Tagen erlebe ich das erste Mal in meinem Leben, dass sich soziale Gewissheiten schneller verändern, als ich hinterherkomme. Vielleicht ist das die zentrale Eigenschaft von historischen Augenblicken?

Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass die Zukunft nicht festgelegt ist. Wir können noch immer beeinflussen, wie viele Menschen in zwei, drei Wochen krank sein werden. Wir können aber auch – und das ist vielleicht viel wichtiger – beeinflussen, ob der “Krieg gegen die Krankheit” die Gesellschaft um uns herum noch autoritärer oder wieder etwas solidarischer machen kann.

Posted in #poetry, deutsch.